100-Tage-ProgrammMaßnahmen, die alle stärken
Politik ist im Alltag spürbar: Wie viel zahle ich für Lebensmittel und Strom? Sind Bus und Bahn eine attraktive Alternative zum Auto? Sind die Produkte, die ich online kaufe, wirklich sicher? Wie lange muss ich auf einen Arzttermin warten? Verbraucher:innen erleben täglich, dass vieles nicht reibungslos funktioniert und der Alltag oft komplizierter und teurer ist, als er eigentlich sein müsste.
Für diese Probleme erwarten sie zurecht Lösungen von der Politik. Die nächste Bundesregierung ist deshalb gefragt, die drängenden Alltagssorgen der Menschen ernst zu nehmen. Sie muss Verbraucherschutz zur Priorität machen. In den ersten 100 Tagen der neuen Legislaturperiode braucht es konkrete Maßnahmen, die den Alltag bezahlbar und fair machen. Guter Verbraucherschutz und klare Rahmenbedingungen geben Sicherheit und fördern das Vertrauen in Staat und Markt. Das stärkt alle: Verbraucher:innen, aber auch die Wirtschaft. Denn allein der private Konsum macht die Hälfte der Wirtschaftsleistung in Deutschland aus.1
Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) macht zehn konkrete Vorschläge, zu denen eine neue Bundesregierung innerhalb der ersten 100 Tage einen Kabinettsbeschluss fassen sollte.
1. Stromsteuer für private Haushalte senken
Verbraucher:innen zahlen in Deutschland im europäischen Vergleich die höchsten Strompreise.2 Diese sind für viele bereits heute schwer zu stemmen. Durch die Energie- und Wärmewende könnte sich das Problem verschärfen. Verbraucher:innen müssen daher schnell entlastet werden. Ein erster Schritt muss eine Anpassung der Stromsteuer auf das EU-Minimum und eine Senkung der Netzentgelte sein. Dabei muss sichergestellt werden, dass die Ersparnis bei den Verbraucher:innen ankommt.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- die Stromsteuer deutlich zu senken. Strom muss günstiger werden. Dafür sollten bei den Netzentgelten die Ausnahmen für die Industrie steuerlich finanziert oder gestrichen werden und die Stromsteuer auf das EU-Minimum reduziert werden.
2. Preise für Fernwärme transparenter machen
Fernwärme gilt als ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Wärmeversorgung der Zukunft. Allerdings gleicht die Preisgestaltung auf dem Fernwärmemarkt nach wie vor einer Blackbox. Für Verbraucher:innen ist kaum nachvollziehbar, wie sich die Preise zusammensetzen. In einem Marktcheck konnte der vzbv bei rund einem Drittel der untersuchten Netze keine vollständigen Angaben zu Preisen und der Preiszusammensetzung auf den Webseiten der Anbieter finden.3 Es braucht daher deutlich mehr Transparenz und eine bessere Aufsicht.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- durch die Überarbeitung der Fernwärmeverordnung mehr Transparenz zu schaffen. Es muss klar sein, wie sich die Preise für Fernwärme zusammensetzen. Zusätzlich braucht es eine behördliche Preisaufsicht, damit Verbraucher:innen nicht unangemessen hohe Fernwärmepreise zahlen.
3. Transparenz bei Lebensmittelpreisen ermöglichen
Der Einkauf im Supermarkt wird immer teurer. Allein seit Januar 2020 sind die Lebensmittelpreise in Deutschland um über 34 Prozent gestiegen.4 Wie die hohen Preise zustande kommen, ist oft nicht nachzuvollziehen. Denn niemand weiß, wer entlang der Wertschöpfungskette wie viel Gewinn macht. Aufgrund der fehlenden Transparenz kann aktuell nicht ausgeschlossen werden, dass einige Unternehmen ihre Umsätze auf Kosten der Verbraucher:innen steigern. Eine Preisbeobachtungsstelle sollte hier Licht ins Dunkel bringen.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- eine Preisbeobachtungsstelle einzurichten. Um die Preisbildung entlang der Wertschöpfungskette nachvollziehbar zu machen, sollte eine unabhängige Stelle die Produktionskosten und Margen erfassen. Mit der Aufstellung des Bundeshaushalts 2026 sollen daher erste Weichen zur Einrichtung einer Preisbeobachtungsstelle bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) gestellt werden.
4. Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abschaffen
Verbraucher:innen möchten sich gesund und ausgewogen ernähren. Doch das ist aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise gar nicht so einfach. Als kurzfristige Maßnahme sollte die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abgeschafft werden. Das Umweltbundesamt hat ausgerechnet, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung für pflanzliche Grundnahrungsmittel Verbraucher:innen jährlich um bis zu 4 Milliarden Euro entlasten würde.5 Gleichzeitig schafft sie Anreize für eine gesunde Ernährung.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abzuschaffen. Die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte würde zu einer finanziellen Entlastung beitragen. Zusätzlich würde sie eine gesunde und nachhaltige Ernährung unterstützen.
5. Deutschlandticket langfristig erhalten
Das Deutschlandticket ist ein großer Erfolg. Im Juni 2024 besaßen rund 13 Millionen Menschen das Ticket.6 Es macht Busse und Bahnen für viele Menschen günstiger und einfacher. Allerdings ist das Deutschlandticket nicht langfristig gesichert und finanziert. Um vom Auto auf den ÖPNV umzusteigen, benötigen die Menschen Planungssicherheit. Verbraucher:innen dürfen nicht jährlich den Unsicherheiten von neuen Verhandlungen zwischen Bund und Kommunen ausgesetzt werden.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- das Deutschlandticket langfristig zu erhalten. Das Deutschlandticket muss langfristig gesichert und finanziert werden. Dabei muss das Ticket preislich ein Ticket für alle sein. Zudem sollte das Angebot ausgebaut werden, um den ÖPNV für die Menschen noch attraktiver zu machen.
6. Digitale Buchungsplattformen für Arzttermine regulieren
Immer wieder müssen gesetzlich Versicherte lange Wartezeiten für Facharzttermine in Kauf nehmen. Selbstzahler:innen oder Patient:innen, die individuelle Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, werden häufig bevorzugt. Außerdem bedeutet zunehmend digitale Buchungsoptionen eine weitere Hürde für digital weniger affine Patient:innen. In einer Umfrage gaben 37 Prozent der Nutzer:innen eines Online-Arztterminportals an, dass sie zuvor nicht telefonisch durchgekommen sind.7 Diese Ungleichbehandlung in der Patientenversorgung muss beendet werden.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- digitale Buchungsplattformen für Arzttermine gesetzlich zu regulieren. Es muss gesetzlich sichergestellt werden, dass Patient:innen auf Buchungsplattformen nicht aufgrund ihres Versicherungsstatus oder ihrer Zahlungsfähigkeit benachteiligt werden. Ungerechtfertigte Ausfallhonorare und die Steuerung hin zu Selbstzahlerleistungen sind zu verbieten. Ausfallgebühren dürfen nicht einseitig und willkürlich festgelegt werden, insbesondere wenn der Termin krankheitsbedingt oder aus anderen unverschuldeten Gründen abgesagt werden muss.
- analoge Terminbuchungen zu erhalten. Ärzt:innen und andere Leistungserbringer:innen müssen verpflichtet werden, die Terminbuchung auch telefonisch und vor Ort zu ermöglichen. Die Terminvermittlung über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen („116 117“) ist konsequent auszubauen und zu verbessern, statt das Spielfeld alleine den kommerziellen Anbietern zu überlassen.
7. Produktsicherheit auf Online-Marktplätzen gewährleisten
Feuermelder, die kein Feuer melden, oder Nachtlichter, die Kindern einen Stromschlag verpassen – Produkte auf Online-Marktplätzen können für Verbraucher:innen schnell zur Gefahr werden, da sie teilweise nicht den EU-Sicherheitsvorschriften entsprechen. In einem Test des europäischen Spielwarenverbands stellen 18 von 19 getesteten Kinderspielzeugen von Temu eine Gefahr für Kinder dar.8 Außerdem stoßen Verbraucher:innen beim Direktkauf von Händlern aus Nicht-EU-Staaten oft auf verbraucherrechtliche Probleme, etwa weil Händler das Widerrufsrecht ignorieren.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- für verschärfte Sorgfaltspflichten einzutreten. Die Sorgfaltspflichten der Betreiber von Online-Marktplätzen müssen im Hinblick auf die Produktsicherheit verschärft werden. Dafür muss sich die Bundesregierung auf EU-Ebene starkmachen. Konkret müssen strengere Kontrollpflichten eingeführt werden.
- für eine Haftung der Betreiber einzutreten. Betreiber von Online-Marktplätzen sollten für Schäden haftbar sein, wenn kein Händler oder Produzent greifbar ist. Hierfür muss sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene einsetzen.
- Zoll und Marktüberwachung zu stärken. Die finanzielle und personelle Ausstattung von Zoll und Marktüberwachungsbehörden in Deutschland muss sicher und zukunftsfähig gestaltet werden. Der Bund sollte die Länder finanziell unterstützen und eine stärker koordinierende Rolle einnehmen.
8. Überschuldung durch Dispo- und Buy-now-pay-later-Kredite verhindern
Heute kaufen, später bezahlen – das ist das Prinzip von „Buy-Now-Pay-Later“-Krediten, die im Online-Shopping durch Anbieter wie Klarna oder Paypal abgeschlossen werden können. Werden diese Kredite oder der Dispokredit für den alltäglichen Bedarf genutzt, können sich Schulden schnell häufen. So rechnen elf Prozent der Verbraucher:innen, die in den letzten drei Monaten einen Dispo-Kredit genutzt haben, damit, dass ihr Konto erst nach mehr als sechs Monaten wieder ausgeglichen ist.9 Das erhöht das Risiko der Überschuldung. In Anbetracht der bevorstehenden Frist zur Umsetzung der EU-Verbraucherkreditrichtlinie am 20. Oktober 2025 müssen schnell Maßnahmen ergriffen werden, um Verbraucher:innen besser zu schützen.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- langfristige Überschuldung durch Dispokredite zu verhindern. Kreditgeber müssen verpflichtet werden, die Höhe des Dispokreditrahmens so festzulegen, dass Verbraucher:innen ihn mit ihrem Einkommen abzüglich der regelmäßigen Ausgaben innerhalb von zwölf Monaten zurückzahlen können. So kann eine langfristige Überschuldung von Verbraucher:innen verhindert werden.
- Überschuldung durch „Buy-Now-Pay-Later“-Kredite zu verhindern. Kreditgeber müssen verpflichtet werden, bei allen Krediten – inklusive „Buy-Now-Pay-Later“- Krediten“ – eine genaue Kreditwürdigkeitsprüfung vor der Vergabe durchzuführen. Dafür muss das besondere Risiko dieser Kreditform für Verbraucher:innen gesetzlich anerkannt werden.
9. Verbraucher:innen vor Kostenfallen schützen
Nach einem Werbeanruf kommt plötzlich eine Rechnung ins Haus, ohne dass ein Vertrag abgeschlossen wurde – Verbraucher:innen ärgern sich immer wieder über untergeschobene Verträge, die angeblich am Telefon abgeschlossen wurden. Die Verbraucherzentralen haben allein von Januar bis November 2024 mehr als 8.900 Beschwerden dazu registriert. Da sich nicht alle Betroffenen an eine Verbraucherzentrale wenden, liegt die tatsächliche Zahl der Betroffen deutlich höher.10 Scheitern die Bemühungen, den Vertrag zu kündigen, bleiben sie auf den Kosten sitzen. Verbraucher:innen müssen besser vor diesen Kostenfallen geschützt werden.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- eine Bestätigungspflicht für Telefonverträge einzuführen. Für alle telefonisch abgeschlossenen langfristigen Verträge muss eine Bestätigungspflicht eingeführt werden. Die Bestätigung muss in Textform vorliegen und erst nach Beendigung des Telefonats möglich sein.
10. Wohneigentum bezahlbar machen
Bezahlbarer Wohnraum wird zunehmend zur Mangelware – besonders in Großstädten und Ballungszentren. Neben fehlenden Mietwohnungen stellt auch der Erwerb eines Eigenheims Verbraucher:innen vor finanzielle Herausforderungen. Dazu trägt auch die Grunderwerbssteuer bei. Im Jahr 2006 lag sie bundeseinheitlich bei 3,5 Prozent. Nach der Föderalismusreform liegt der Steuersatz aktuell bei durchschnittlich 5,5 Prozent, in einigen Bundesländern sogar bei 6,5 Prozent.11 Verbraucher:innen müssen beim Erwerb einer selbst genutzten Immobilie besser unterstützt werden.
Die Bundesregierung sollte im Kabinett beschließen…
- Eigenheime zu fördern. Beim erstmaligen Erwerb oder Bau eines selbst genutzten Eigenheims sollte die Grunderwerbssteuer für private Haushalte reduziert werden. Die Maklercourtage sollte vollständig von den Verkäufer:innen getragen werden.
Quellennachweise
1 https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Volkswirtschaftliche-Gesamtrechnungen-Inlandsprodukt/Tabellen/inlandsprodukt-verwendung-bip.html
2 https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/nrg_pc_204__custom_7816693/default/table?lang=de
3 https://www.vzbv.de/publikationen/fernwaerme-bleibt-fuer-verbraucherinnen-zu-intransparent
4 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/11/PD24_423_611.html
5 https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/mehrwertsteuer-oekologisch-sozial-gestalten
6 https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/deutschlandticket-warum-das-guenstige-49-euro-angebot-bahnstrecken-bedroht/100053299.html
7 Repräsentative Online-Befragung von 382 Internetnutzer:innen ab 16 Jahren in Deutschland, die in den letzten 12 Monaten einen Arzttermin über ein Arztterminportal gebucht haben. Durchführung durch das Institut eye square im Auftrag des vzbv. Statistische Fehlertoleranz: max. ± 5 Prozentpunkte. Befragungszeitraum: 23. bis 29. Oktober 2024.
8 https://www.toyindustries.eu/95-of-toys-bought-from-new-online-platform-break-eu-safety-rules/
9 Repräsentative Telefon-Befragung von 136 Personen ab 18 Jahren in Deutschland, die in den letzten drei Monaten ihr Girokonto überzogen bzw. einen Dispo in Anspruch genommen haben. Durchführung durch das Institut forsa im Auftrag des vzbv. Statistische Fehlertoleranz: ± 5 Prozentpunkte. Befragungszeitraum: 21. bis 31. Oktober 2024.
10 Die Auswertungen der Beschwerdestatistik basieren auf der Vorgangserfassung aller 16 Verbraucherzentralen in den insgesamt rund 200 Beratungsstellen in Deutschland. Die Vorgangserfassung stellt die statistische Erfassung aller Verbraucheranliegen dar, die an die Verbraucherzentralen herangetragen werden. Direkte Rückschlüsse auf die Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Verbraucherprobleme in der Gesamtbevölkerung sind daraus jedoch nicht ableitbar.
11 https://taxfoundation.org/de/data/all/eu-de/grunderwerbsteuersaetze-in-den-deutschen-bundeslaendern/